Biografiearbeit
Projekt verbindet Musikgenuss und Mitarbeiterschulung
Den Liedern des Lebens lauschen, mitsingen, schunkeln und den Erinnerungen freien Lauf lassen. Das konnten die Bewohner:innen der Seniorenbetreuung Schloss Schliestedt. Ob beim Konzert im Spiegelsaal oder in Einzelbegegnungen auf dem Zimmer – Musikerin und Kulturgeragogin Annie We hat sich drei Tage Zeit genommen für musikalische Biografiearbeit und währenddessen auch das Betreuungsteam geschult.

Bereits im dritten Jahr ist die Haus- und Hofmusikantin, wie sich Annie We selbst bezeichnet, aus Köln nach Niedersachsen gekommen, um die Bewohnerinnen und Bewohner mit den Liedern ihrer Jugend zu begeistern. So versinkt mal bei Capri die rote Sonne im Meer, es regnet rote Rosen oder Mimi geht ohne ihren Krimi erst gar nicht ins Bett. Dabei wandert mal ein Strohhut durch den Stuhlkreis, eine Dame betrachtet aufmerksam ein Plattencover, und ein Herr betastet interessiert eine Kassette.
Dem individuellen Liedgut auf der Spur
„Selbst Menschen, die einen Sprachverlust erlitten haben, können oft noch Lieder singen und Liedtexte erinnern, die ihnen geläufig sind oder waren“, so Annie We. Daher sei es so wichtig, das individuelle Liedgut mit den älteren Menschen aufzuspüren. Betreuende können es dann nutzen, um einen Menschen zu aktivieren oder zu beruhigen. Annie We: „Dieses gemeinsame Aufstöbern der Lieder des Lebens ist etwas sehr Persönliches. Daher arbeiten wir dafür in einem kleinen Setting zu dritt: Bewohner:in, Musikerin und Betreuungskraft – ganz in Ruhe und zurückgezogen im Zimmer und am Bett.“
Musikvorlieben fließen in die Dokumentation
Mit ihren beiden Ukulelen, ihrer Musikbox und den Liedersammlungen der Hits der 1920er- bis 80er-Jahre besucht die Musikerin musikinteressierte Bewohnerinnen und Bewohner somit einzeln auf ihrem Zimmer oder an einem anderen ungestörten Ort. Gemeinsam mit den alten Menschen findet sie heraus, welche Lieder etwas auslösen und zur aktuellen Stimmung passen. Manchmal dauert es ein paar Minuten, bis beispielsweise eine bettlägerige Seniorin mitsingen mag und ihrer Stimme wieder vertraut. Ist das Eis erst einmal gebrochen, will sie den musikalischen Besuch gar nicht mehr ziehen lassen. Mit dabei bei solchen Besuchen ist immer auch eine Mitarbeiterin aus dem Betreuungsteam.
Die Lieder, Ideen und Reaktionen dokumentieren beide dann in einem von Annie We übersichtlich gestalteten Protokoll. Damit können dann alle Betreuenden des jeweiligen Wohnbereiches individuell mit den Menschen arbeiten. Diese Informationen fließen anschließend in das Dokumentationssystem und stehen für künftige Angebotsplanungen zur Verfügung. Das Wissen um die musikbiografischen Vorlieben und wie ein Mensch erreicht werden kann, hilft dem Betreuungsteam in der weiteren Begleitung bis hin zum Sterbeprozess.
Im November wird Annie We wieder ins Schloss Schliestedt kommen: Dann wird Sie mit den Betreuungsassistenzen mögliche Fragen klären, die in der Zwischenzeit aufkommen könnten. Auch werden sie gemeinsam schauen, wie sich die Dokumentation noch optimieren lässt und das Ausfüllen der Protokolle noch zielführender und schneller gelingen kann – und hören, wer vielleicht sogar bis dahin Ukulele spielen kann. So ist gesichert, dass musikalische Biografiearbeit nachhaltig im Alltag etabliert wird.
Wie das musikalische Projekt langfristig Früchte trägt
Viele der Bewohnerinnen und Bewohner hat Annie We über die letzten Jahre schon kennengelernt und kann an Vorerfahrungen anknüpfen. Auch das Know-how im Betreuungsteam wird so stetig ausgebaut. Heimleiterin Sabine Resch-Hoppstock, die auch Kunstgeragogin ist, ist der langfristige Effekt dieses besonderen Musikprojekts wichtig. Dafür investiert sie gern in ihr Team und das Wohl der dort lebenden Menschen. Um die notwendigen finanziellen Mittel zu akquirieren ist sie gut vernetzt und hartnäckig, denn sie ist überzeugt: „Kultur ist ein Menschenrecht.“
Annie We und Sabine Resch-Hoppstock haben sich das Ziel gesetzt, kulturelle Teilhabe auch im hohen Alter zu ermöglichen. „Wir machen uns stark für unsere Sichtbarkeit und Lobby in Gesellschaft und Politik. Und damit auch für eine faire Bezahlung von Künstlern und Kulturvermittelnden, die unter anderem in der Betreuung pflegebedürftiger Menschen. ihre Arbeit tun“, so Annie We.
Vernetzt aktiv: nächster Musikstopp ist Wolfenbüttel
Nach drei intensiven Tagen im Schloss Schliestedt zieht die Musikerin weiter ins nahegelegene Wolfenbüttel. Dort ist sie ebenfalls mehrere Tage im AWO Wohn- und Pflegeheim im Kamp musikalisch aktiv. Die Einrichtungsleitung dort ist Ellen Arndt, die einen engen Kontakt nach Schliestedt pflegt. Sie und Sabine Resch-Hoppstock haben bereits in der Vergangenheit gemeinsame künstlerische Projekte auf den Weg gebracht, zum Beispiel einen Kunstschmiede-Workshop für Bewohnerinnen und Bewohner und Gäste. Wir berichteten unter: Handwerkliche Angebote vermitteln Männern mehr Selbstvertrauen
Was macht eigentlich ein Kulturgeragoge?
Kunst- und Kulturgeragoginnen und -geragogen ermöglichen Menschen in allen Lebenslage den Zugang zu Kunst und Kultur. Die biografische Herangehensweise ist hier Grundlage für alle künstlerischen Sparten in der Arbeit mit älteren Menschen: Bildende Kunst, Literatur und Schreiben, Tanz und Theater und Musik.
Mehr Infos
Fachverband Kunst- und Kulturgeragogik
Über den Verband ist der Kontakt zwischen den Projektbeteiligten zustande gekommen. Er ist Ausgangspunkt für die Idee und das Projekt. Dessen strukturierte und methodische Arbeit prägt den Zusammenschluss der verschiedenen künstlerisch und kulturell ausgerichteten Mitglieder in ganz Deutschland.
Kompetenzzentrum für kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur
Annie We – Haus – und Hofmusikantin

Musik verbindet – das symbolisiert auch die Schnur, die die Konzertteilnehmenden gemeinsam festhalten, während sie Annie We zuhören, mitsingen oder sie mit Rhythmusinstrumenten begleiten.
Annie We im Gespräch mit der Redaktion Aktivieren:
Sabine Resch-Hoppstock (mitte) und Ellen Arndt (links) haben vor drei Jahren mit der Musikerin Anni We das Projekt “Lieder meines Lebens” gestartet. Was Sie bewegt, sehen Sie im Video mit der Redaktion Aktivieren:
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